Von Industrie 4.0 zu Science 4.0 ?

Gerhard F. Knolmayer, Universität Bern (Emeritus)

Der in der (Wirtschafts-)Informatik begründete Begriff „Industrie 4.0“ hat eine steile Karriere hinter sich. Er wurde eher unkritisch in sehr unterschiedlichen Kontexten adaptiert; einer davon ist „Science 4.0“.

2011 wurde der sehr aufmerksamkeitswirksame Begriff „Industrie 4.0“ geprägt. Diesem Beitrag lege ich folgende Definition zugrunde: Industrie 4.0 basiert auf digital vernetzten Systemelementen (wie Maschinen, Werkstücken, Werkzeugen, Transportsystemen), die Daten austauschen und die Leistungserbringung weitgehend selbstständig organisieren und ausführen. Das Konzept wurde mit großer Euphorie verfolgt, aber auch mit Sarkasmus kommentiert.

Über die Details dieses Konzepts besteht auch nach mehr als einem Jahrzehnt kein Konsens. Selbst zur Frage, was mit „Industrie x.y“ für x<4 gemeint und warum (in Abweichung z.B. von Software-Klassifikationen) meist y=0 unterstellt wird, finden sich keine befriedigenden Antworten. Trotz dieser Unschärfen haben u.a. die betriebswirtschaftliche Forschung, Förderinstitutionen, Ministerien, Berater, Seminaranbieter, Verlage und nicht zuletzt Innovationsverantwortliche in den Unternehmen diese Überlegungen intensiv weiterverfolgt.

In der Folge wurde die Komponente „4.0“ in eine Vielzahl sprachlicher Konstrukte eingebracht (Mertens et al., 2017), die zu „Industrie 4.0“ kaum Beziehung haben und insbesondere die zentrale Vorstellung der Vernetzung nicht aufnehmen. Häufig steht „4.0“ als Symbol für Neuartigkeit, Veränderung und Modernität. Noch mehr als bei „Industrie 4.0“ werden dabei kaum Abgrenzungen zu x<4 und Inhalte für y≠0 beschrieben.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass auch der Begriff „Science 4.0“ eingeführt wurde. Darunter wird eine völlig automatisierte oder doch zumindest durch Elemente künstlicher Intelligenz geprägte Wissenschaft verstanden. Legt man die Ableitung von „Industrie 4.0“ zugrunde, so dürfte in „Science 4.0“ die Vernetzung der wissenschaftlichen Akteure ein zentrales Element darstellen.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler früherer Jahrhunderte forschten und publizierten weitgehend allein; oft ist unbekannt, mit wem sie sich austauschten. Heute wird die Vernetzung mit anderen Personen und Institutionen weithin empfohlen. In diesen Netzwerken haben sich manche Organisationen einflussreiche Positionen geschaffen, wie die Abbildung durch die Größe der Kreise und die Dicke der Linien veranschaulicht (Knolmayer 2021).

Für die Karriere wird der Aufbau eines persönlichen Netzwerks empfohlen, die Kaffeepause auf Tagungen zur „Gelegenheit für Networking“. An Kongressen kann das Knüpfen von Kontakten zu potentiellen Kooperationspartnern wichtiger als der Besuch von Vorträgen werden. Manche Förderprogramme fordern Mindestzahlen von kooperierenden Organisationen, die zudem in mehreren Staaten domiziliert sein sollen. Beobachtungen und Anekdoten lassen vermuten, dass in einer solchen Zusammenarbeit nicht alle beteiligten Institutionen proportional zu den Förderbeträgen zum Projekterfolg beitragen („Trittbrettfahrer-Effekt“).

Nach dem Brooks‘schen Gesetz (Brooks 1975) behindert eine stark steigende Zahl von Projektmitarbeitenden wegen Koordinationsproblemen den Projekterfolg. Exzessive Kooperationen führen zu Publikationen, in denen die Zahl der Koautoren so groß ist, dass fraglich wird, ob alle genannten Personen wesentliche Beiträge geleistet haben.

Die optimale Zusammensetzung von Forschungsverbünden kann wohl nur situativ beurteilt werden. Gleichwohl sollte die Vernetzung eigenständiges Analysieren nicht durch übermäßige Koordinationsaufwände behindern.

Gerhard F. Knolmayer, Universität Bern (Emeritus)

 

Literaturhinweise:

Brooks, Jr., F.P.: The Mythical Man-Month, Addison-Wesley 1975

Knolmayer, G.: Science 4.0 - Networking! Beitrag zur Virtuellen Ausstellung "WISSEN & SCHAFFEN" 2021 https://www.knolmayer.art/socioeconomic-issues

Mertens, P., Barbian, D., Baier, S.: Digitalisierung und Industrie 4.0 – eine Relativierung, Springer 2017