Die Theorie der disruptiven Innovation und das „Innovator’s Dilemma“

Jörn Block, Universität Trier

Die Theorie der disruptiven Innovation und das damit zusammenhängende Innovator’s Dilemma von Clayton Christensen (1952-2020) gehören zu den grundlegenden Theorien der BWL. Neben seiner Bedeutung für die Betriebswirtschaftslehre als akademische Disziplin (insb. im Bereich Innovationsmanagement, Entrepreneurship sowie Strategisches Management und Organisation) hat die Theorie aber auch einen großen Einfluss auf die Praxis, jedoch nicht immer in der von Clayton Christensen ursprünglich beschriebenen Form. Die Begriffe disruptiv und disruptive Innovation werden mittlerweile inflationär genutzt und gehören zum allgemeinen Sprachgebrauch der Wirtschaftspraxis und Wirtschaftsmedien. Dieser Beitrag beschreibt die Theorie der disruptiven Innovation in seiner Ursprungsform und der von Clayton Christensen selbst vorgenommenen Erweiterung.

Die Theorie der disruptiven Innovation nach Christensen (1997) beschreibt das Aufkommen einer neuen Technologie („disruptive technology“), welche anfangs von seinem Leistungsangebot der etablierten Technologie weit unterlegen ist, jedoch im Zeitverlauf durch technischen Fortschritt und Lern- sowie Skaleneffekte immer besser wird. Markteintretende Unternehmen (häufig „start-ups“) setzen auf diese Technologie und treten mit einem niedrigpreisigen „low-end“-Produkt in das untere Marktspektrum ein. Mit dem Fortschreiten der Technologie im Zeitverlauf wird dieses Produkt jedoch für ein immer breiteres Marktspektrum zu einer attraktiven Alternative gegenüber der etablierten Technologie (auch „sustaining technology“). Das Innovator‘s Dilemma für die bereits im Markt etablierten Unternehmen besteht darin, dass sie trotz hoher Innovationserfolge in der Vergangenheit und Marktführerschaft, nur einen geringen Anreiz haben, von der etablierten Technologie abzuweichen und auf die (technisch unterlegene) disruptive Technologie zu wechseln. Im Gegenteil: Aufgrund von bestehenden Kundenbeziehungen, einer hohen Marktreputation und sorgfältig aufgebauter Kompetenzen, haben sie einen Anreiz, ihre Technologie beständig inkrementell weiterzuentwickeln. Insbesondere die anspruchsvollsten Bestandskundinnen und -kunden haben wenig Interesse an einem technisch unterlegenen relativ simplen Produkt, sondern verlangen nach immer technisch ausgereifteren und komplizierteren Produkten mit vielen „Produktfeatures“, was die Kosten und den Preis nach oben treibt. Die Folge ist jedoch, dass die etablierten Unternehmen für ein immer kleineres Spektrum des Marktes im Vergleich zum markteintretenden Unternehmen mit der disruptiven Technologie die bessere Alternative darstellen. Die entstehende Marktlücke wird durch die disruptiven Unternehmen genutzt und die etablierten Unternehmen verabschieden sich schrittweise vom Massenmarkt. Sie werden zu einem Nischenanbieter für hochpreisige Produkte oder verlassen den Markt gänzlich. Die Ursprungsversion der Theorie war durch die Beschreibung von Phänomenen wie das Verdrängen von integrierten Stahlwerken durch Mini-Mill-Stahlwerke sowie durch das Aufkommen und Verdrängen von immer neuen Generationen von Festplattenlaufwerken inspiriert. Clayton Christensen hat jedoch seine Theorie ständig erweitert, u.a. um den Fall, dass aus Sicht des Kunden neue, mit der disruptiven Technologie verbundene Leistungsparameter ausschlaggebend sind. Ein Beispiel hierfür sind Smartphones, durch die das mobile Telefon zur Plattform für Apps wurde. Das Telefonieren an sich verlor an Bedeutung und Unternehmen wie Apple und Samsung haben mit ihren Smartphones Nokia als Marktführer für Mobiltelefone abgelöst. Im Unterschied zur ursprünglichen Version der Theorie fand hier allerdings der Markteintritt nicht mehr am unteren, sondern am oberen Marktspektrum statt. Die ersten Smartphones waren hochpreisig und zielten eher auf vermögende, technikaffine Konsumentinnen und Konsumenten.

Die Frage, wie etablierte Unternehmen dem Innovator’s Dilemma begegnen können, drängt sich auf und ist Bestandteil der aktuellen betriebswirtschaftlichen Forschung. Mögliche Reaktionen sind u.a. Selbst-Disruption, Akquisition von disruptiven Start-ups, Produktdiversifikation verbunden mit der Einführung von Niedrigpreisprodukten. (vgl. auch Gans, 2016).

Jörn Block, Universität Trier

Quellenangaben:

Christensen, C. M. (1997). The Innovator’s Dilemma: When new technologies cause great firms to fail. Harvard Business Review Press: Boston.

Christensen, C. M., M. E. Raynor, and R. McDonald. (2015). What is disruptive innovation? Harvard Business Review December: 44–53.

Gans, J. (2016). The Disruption Dilemma. The MIT Press: Cambridge.